Raupen auf der Hand

„Ein Darm auf Beinen“ – Raupen als Ersatz für klassische Tierversuche

Anton Windfelder untersucht entzündliche Darmerkrankungen. Dabei helfen ihm ungewöhnlich große Insekten: Die Raupen des Tabakschwärmers Manduca sexta. Mit ihnen entwickelt er neue Methoden für die Diagnose und Therapie von Krankheiten – und hilft so auch, Tierversuche an Wirbeltieren zu reduzieren. Tierversuche verstehen hat den Nachwuchswissenschaftler zum Interview getroffen.

Tierversuche verstehen: Warum haben Sie Raupen für Ihre Forschung ausgewählt? Welche Vorteile hat der Tabakschwärmer gegenüber anderen Insekten oder wirbellosen Tieren?

Anton Windfelder – Foto: Pia Windfelder

Anton Windfelder: Ich habe mich für den Tabakschwärmer entschieden, weil er eine Reihe von Vorteilen bietet. Er teilt bis zu 90 % derjenigen Gene mit uns, die beim Menschen eine Krankheit auslösen können und hat ein angeborenes Immunsystem, das unserem sehr ähnlich ist. Zudem ist die Manduca-Raupe groß genug für nicht-invasive Bildgebungsmodalitäten wie CT, MRT und PET. Das ist bei Insekten nicht selbstverständlich, denn die meisten Arten sind deutlich zu klein dafür. Diese Eigenschaften machen Manduca besonders geeignet für die biomedizinische Forschung, insbesondere zur Untersuchung von Darmerkrankungen.

Warum werden gerade Darmerkrankungen mit den Raupen untersucht?

Der Darm ist das größte und wichtigste Organ der Tiere. Man könnte sagen, die Raupen sind ein „Darm auf Beinen“. Wichtig ist auch, dass sich der Darm in gerader Linie ohne Darmschlingen durch das Tier zieht. Das macht die Untersuchungen einfacher, weil es keine Signalüberlagerung in der Bildgebung gibt. Dies ermöglicht es uns, entzündliche Veränderungen im Darm zu analysieren und die Wirkung verschiedener Behandlungen zu untersuchen, ohne die Tiere töten zu müssen. Und anders als bei Zellkulturen oder Organoiden haben wir es mit einem vollständigen, komplexen Organismus zu tun. So können wir relevante Erkenntnisse für menschliche Erkrankungen gewinnen.

Haben Raupen nicht eine ganz andere Anatomie als Säugetiere? Wie kann man die Ergebnisse da auf den Menschen übertragen?

Raupen haben zwar eine völlig andere Morphologie als Säugetiere, aber sie teilen viele grundlegende biologische Mechanismen und genetische Ähnlichkeiten mit Menschen. Diese Gemeinsamkeiten ermöglichen es uns, wichtige Erkenntnisse über Krankheitsmechanismen zu gewinnen und neue Therapien zu entwickeln. Die Ergebnisse können als Grundlage für weiterführende Studien an Säugetieren und letztendlich am Menschen dienen.

Kann ein Medikament im Anschluss an die Versuche mit den Raupen direkt am Menschen getestet werden?

Nein. Die Ergebnisse aus den Raupenmodellen müssen in weiteren Tests an Säugetieren überprüft werden. Erst dann können klinische Studien am Menschen in Erwägung gezogen werden. Unsere Forschung hilft aber, Versuche mit hochsensiblen Versuchstieren wie Mäusen oder Ratten zu reduzieren.

Maus und Raupe
Maus und Raupe nebeneinander – Foto: Kim Weigand & Anton Windfelder

Wo stößt das „Modell Raupe“ in der Anwendung an seine Grenzen?

Das Raupenmodell stößt beispielsweise an seine Grenzen, wenn es um bestimmte Komponenten des Immunsystems geht. Insekten haben zwar ein angeborenes Immunsystem mit Immunzellen (Hämozyten), aber es fehlt das adaptive Immunsystem, welches beispielsweise Antikörper produziert. Deshalb kommt das Insektenmodell besonders für die Erforschung von akuten Infektionen und Entzündungen in Frage.

In welchen anderen Bereichen könnte die Forschung mit Manduca eine Alternative zu Tierversuchen sein?

Manduca könnte in vielen Bereichen eine Alternative zu traditionellen Tierversuchen sein. Dies schließt die Untersuchung von Infektionskrankheiten, die Testung neuer Antibiotika und die Entwicklung von Kontrastmitteln für die Bildgebung mit ein. Außerdem können Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes und sogar neurologische Erkrankungen an der Raupe erforscht werden.

Können Sie exemplarisch einen typischen Versuchsablauf schildern?

Ein typischer Versuchsablauf beginnt mit der Narkose der Raupen durch Kälte oder ein Inhalationsanästhetikum wie Isofluran, um Schmerzen – sollten sie auftreten – zu vermeiden. Danach injizieren wir ein Kontrastmittel in das Rückengefäß der Tiere. Anschließend legen wir die Raupen in das CT-, MRT- oder PET-Gerät, um detaillierte Bilder des Darms zu erhalten. Nach der Bildgebung erwachen die Raupen aus der Narkose und leben weiter. Diese Methode ermöglicht es, Daten aus dem Darmtrakt auch wiederholt und über einen längeren Zeitraum zu gewinnen – vergleichbar mit menschlichen Diagnoseverfahren.

Die Untersuchung ist in diesen Videos zu sehen:

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Worauf müssen Sie im Umgang mit den Tieren achten und was passiert nach den Versuchen mit ihnen?

Wir achten auf eine artgerechte Haltung, die den natürlichen Bedürfnissen der Tiere entspricht. Nach den Versuchen leben die Raupen wie zuvor und können teilweise sogar in der Zucht weiterverwendet werden. Aber nur ein kleiner Teil der Zucht wird für wissenschaftliche Experimente genutzt, die meisten Tiere brauchen wir für die Erhaltung der Zucht. Wir gewährleisten, dass die Tiere möglichst wenig Leid erfahren und haben einen eigenen Anästhesiestandard entwickelt, um mögliche Schmerzen zu minimieren.

Haben Raupen weniger Schmerzen bei den Versuchen als Ratten oder Mäuse? Kann man etwas darüber sagen, wie es den Tieren, die für die Forschung verwendet werden, geht?

Die Frage, ob die Verwendung von Insekten in der Forschung weniger Leid verursacht als die Nutzung von Wirbeltieren wie Mäusen und Ratten, ist komplex und bedarf einer ausführlichen Betrachtung. Neuere Studien legen nahe, dass Insekten möglicherweise Schmerz empfinden können, was ethische Bedenken aufwirft. Bei juvenilen Lepidopteren, also den Raupen von Schmetterlingen und Motten, gibt es jedoch aufgrund ihres weniger entwickelten Nervensystems weniger Hinweise für Schmerzempfinden im Vergleich zu ausgewachsenen Insekten. Dies könnte darauf hindeuten, dass das Risiko, ihnen Leid zuzufügen, geringer ist. Eine endgültige Antwort kann ich aber nicht geben.

Grundsätzlich ist ein wesentlicher Vorteil der Raupen gegenüber Säugetieren die deutlich einfachere artgerechte Haltung. In der freien Natur benötigen Raupen lediglich Nahrung, eine angenehme Temperatur und passende Luftfeuchtigkeit – Bedingungen, die im Labor leicht umsetzbar sind. Raupen haben kein komplexes Sozialleben wie Ratten oder Mäuse und ihre Augen sind so reduziert, dass sie nur zwischen Helligkeit und Dunkelheit unterscheiden können. Bei den voll entwickelten Motten sieht es etwas anders aus: Nach der Metamorphose benötigen sie zusätzlich Paarungspartner und geeignete Pflanzen zur Eiablage, aber auch diese Bedürfnisse können im Labor relativ einfach erfüllt werden.

Mehrere Raupen im MRT
Raupen im MRT – Foto: Kim Weigand & Anton Windfelder

Insekten sind in der freien Natur eine wichtige Nahrungsquelle für viele andere Tiere und Manduca sexta wird intensiv als Schädling bekämpft, da die Raupen Nachtschattengewächse wie Tabak oder Tomaten fressen. Daher bin ich der Überzeugung, dass es unseren Labor-Raupen mindestens so gut geht wie ihren wildlebenden Artgenossen.

Da wir ein Schmerzempfinden bisher nicht vollständig ausschließen können, narkotisieren wir die wechselwarmen Tiere entweder durch Kälte oder mit Isofluran. Der potenziell schmerzhafteste Teil des Experiments ist meist die Injektion des Kontrastmittels in das Dorsalgefäß, was auch bei MRT- oder CT-Untersuchungen für uns Menschen Standard ist und nur geringe Schmerzen verursacht. Anschließend werden die Tiere schmerzfrei durch Bildgebungsmethoden untersucht. Hier zeigt sich der größte Vorteil unseres Tiermodells: Andere Insekten müssen meist für Experimente getötet oder verletzt werden, während unsere Raupen groß genug für die nicht-invasive Bildgebung sind. So können wir Schmerzen ausschließen – selbst, wenn die Raupen Schmerz fühlen könnten. Und sie können anschließend problemlos weiterleben, was bei Mäusen oder Ratten aufgrund des deutlich höheren Aufwandes für die Haltung oft nicht möglich und darum ethisch problematisch ist.

Dr. Anton Windfelder ist Junior-Gruppenleiter für Multimodal Preclinical Imaging am Fraunhofer-Institut für Molekularbiologie und Angewandte Oekologie (IME) und an der Justus-Liebig-Universität Gießen. https://www.antonwindfelder.com/

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