Ethik bei Tierversuchen: Was schulden wir den Tieren?

Gibt es eine ethische Richtschnur für den Umgang mit Tieren? Woran können Forscher sich orientieren? Professor Peter Kunzmann leitet seit 2015 die Arbeitsgruppe Ethik in der Tiermedizin an der Tierärztlichen Hochschule Hannover. Der Philosoph bietet künftigen Veterinären kritische Begleitung zu ethisch-relevanten Themen in der Ausbildung – etwa zum Thema Tierversuche. Ein Interview von Catarina Pietschmann

Haben wir nicht ein seltsames Verhältnis zu Tieren? Wir verhätscheln die einen, andere essen wir. Und manche instrumentalisieren wir in der Forschung. Wie passt das zusammen?

Peter Kunzmann: Streng genommen gar nicht. Die meisten Ethiker und Juristen sähen es gern, wenn wir ein klares Prinzip hätten, das unser Verhältnis zu allen Tieren regelt. Das ließe sich dann einfach durchdeklinieren und es käme zum Beispiel heraus, ob wir Fische in Aquarien halten oder Steaks essen dürfen – und wenn ja: wie viele. Aber so etwas gibt es nicht, schon allein weil unsere Moral mannigfaltig gespalten ist. Denn bei der Frage „Was darf der Mensch mit dem Tier?“ liegen wir stets auf der Endmoräne langer historischer Entwicklungen, in der sich die Trümmer vieler verschiedener Lebenswelten befinden.

Haben wir nicht ein natürliches Gespür dafür, wie wir mit Tieren umgehen müssen?

Kunzmann: Natürliche Empathie gegenüber Tieren mag es geben, sie ist aber viel kulturvariabler als man denkt. Und gerade in der abendländischen Kultur ist sie so überformt, dass ich mich darauf nicht verlassen wollen würde. Weil Tierversuche Leid vorsehen beziehungsweise verursachen können, ist unsere moralische Intuition zunächst immer dagegen. Auf der anderen Seite wissen viele gar nicht, was sie ihren eigenen Haustieren antun. Deshalb sehen sie da kein Leid – der Tierarzt schon!

Wie geht man mit dieser Widersprüchlichkeit um?

Kunzmann: Wir können besser damit leben, wenn wir nicht anthropozentrisch sondern anthroporelational denken. Indem wir die Ethik auf die Frage fokussieren: Wenn ich mit Tieren umgehe, was schulde ich ihnen dabei? Für meinen Hund bin ich in anderer Weise verantwortlich, als für Igel, die draußen im Wald leben. Und wiederum anders für Nutztiere, wenn ich Fleischesser oder Milchtrinker bin. Ein Teil der Differenziertheit ergibt sich aus der Vielfalt der Mensch-Tier-Verhältnisse und ist insofern auch legitim.

Worin besteht das ethische Dilemma für Forscher, die einen Tierversuch planen?

Kunzmann: Eine ganz schwierige Frage, schon weil sie im Kern voraussetzt, dass wir für diese Abwägung ein gemeinsames Maß hätten. Die EU-Richtlinie nennt es Harm-Benefit-Ratio – das Verhältnis der Verletzung des tierlichen Wohlbefindens gegenüber dessen Nutzen für den Menschen. Ich lege also zwei Dinge auf eine fingierte Waagschale, die eigentlich inkompatible Größen sind: Auf der einen Seite die wissenschaftliche Erkenntnis, vielleicht schon ein Wert an sich, und mögliche Grundlagen für lebensweltlichen Nutzen –etwa eine Therapie oder Prophylaxe einer Krankheit. Auf der anderen Seite mögliche Schmerzen, Leiden und Schäden für das Tier. Es ist, als würde man Äpfel mit Orangen aufwiegen.

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Was versteht man unter ethischer Abwägung beim Tierversuchsantrag?

Kunzmann: Der Forscher muss ausführlich darlegen, warum er den Versuch für ethisch vertretbar hält. Vertretbar heißt nicht notwendigerweise „zwingend“ oder „gerechtfertigt“ – sondern vertretbar. Das muss nicht für jeden klarsichtigen Menschen so sein, aber für den Antragsteller. Deshalb wählt das Recht hier bewusst eine sehr vorsichtige Formulierung. Ich finde es sehr klug, dass derjenige abwägen soll, der – anders als ich Arzneimittelkonsument – genau weiß, was er tut. Er muss der Behörde gegenüber ausführlich darlegen, dass er sich des Spannungsfeldes bewusst ist und es ausgelotet hat. Tierschutz ist in unserer Gesellschaft ein großes Anliegen, was sich in der Grundgesetzänderung zeigt: Du willst einen Tierversuch machen? Also musst Du uns auch erklären, warum das eine gute Idee ist.

Haben wir überhaupt das Recht Tiere für uns leiden zu lassen?

Kunzmann: Gegenfrage: Wer sollte uns dieses Recht denn geben? Sollen wir es aus der Natur ablesen? Das geht schon deshalb nicht, weil das Bild, das wir von der Natur haben ja unser Bild ist. Dass es keine Antwort darauf geben kann, hat aus meiner Sicht keinen ethischen, sondern einen philosophischen Grund: Jahrtausende lang haben wir uns Geschichten erzählt, in denen ganz oben der liebe Gott stand, dann kam lange nichts, vielleicht ein paar Engel, und dann der Mensch. Nach ihm kam wieder lange, lange nichts und dann erst die Tiere, sogenannte vernunftlose Tiere. Sage ich nun umgekehrt, Mensch und Tier sitzen in einem Boot, und es gibt keinen Vorzug aufgrund der Spezieszugehörigkeit, baue ich mir nur ein anderes Bild von der Welt.

Sind die Bedenken der Öffentlichkeit gegenüber Tierversuchen gerechtfertigt?

Kunzmann: Woher kommen denn die Bedenken? Zum einen spielen Bildwelten dabei eine ganz große Rolle. Die Vorbehalte rühren aber auch daher, dass Tierversuche in einer Lebenswelt stattfinden, zu der die Allerwenigsten Zugang haben – weder gedanklich noch praktisch –, nämlich hinter dem Vorhang der Wissenschaft. Es entzieht sich ihrer Kontrolle und das schafft Misstrauen. Die Öffentlichkeit nimmt zudem kaum wahr, wie dicht reguliert Tierversuche inzwischen sind und wie viele Augen darauf sehen. Es liegt außerdem in der Natur der Sache, dass der mögliche Nutzen von Forschungsvorhaben, die Tierversuche beinhalten, lebensweltlich unsicher ist. Weil selbst der Wissenschaftler nicht weiß, ob herauskommen wird, was er vermutet. Wer ein Schnitzel isst, erkennt den Nutzen von Schnitzeln unmittelbar und der hat auch mit dem Leid und Tod eines Tieres zu tun. Aber dieser Nutzen ist für ihn greifbar, konkret und sicher.

Ist es anderseits nicht unmoralisch Tierversuche komplett abzulehnen, nur weil ich persönlich ihren potentiellen Nutzen nicht sehe?

Kunzmann: Praktisch ginge das gar nicht, weil Tierversuche außerhalb der Verantwortung des einzelnen Nutzers liegen. Als Patient beispielsweise kann ich darüber also gar nicht entscheiden. Aber angenommen, ich könnte es: Wenn bei der Arzneimittelentwicklung zum Schutz der allgemeinen Gesundheit ein Tierversuch gemacht werden soll und ich sage „Nein“, trage ich später auch die Verantwortung gegenüber Herrn Meier, dem sein Arzt sagen muss: „Wir haben leider nichts, was Ihnen helfen kann.“

Dieses Interview erschien zuerst auf der Homepage der Freien Universität Berlin.

Besuchen Sie auch unsere Seite zum Thema Tierversuche und Ethik.

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